Donnerstag, 17. August 2017

Rezension: Michael Tischinger - Selbstliebe

Rezension: Michael Tischinger - Selbstliebe
Sich in der Liebe üben und einen Zugang zu inneren Ressourcen finden!
Michael Tischinger (2017). Selbstliebe - Weg der inneren Heilung. Freiburg/Breisgau (GER), Verlag Herder
Das Buch wurde freundlicherweise vom Verlag zur Verfügung gestellt – www.herder.de
Rezensent: Mag. Harald G. Kratochvila (Wien)
Stichworte: Leben, Lebensbewältigung, Liebe, Spiritualität, Lebenskompetenz, Philosophie, Rezension

Gedanken über die Macht eines Gefühls

Rezension Harald G. Kratochvila - Michael Tischinger (2017) SelbstliebeKrisen, Verletzungen, Schwierigkeiten - wir Menschen sind fast täglich mit Gefühlen konfrontiert, die in solchen Situationen hervorgerufen werden und versuchen dabei, dem Leben eine Bedeutung oder einen Sinn zu geben: „Lernen wir zu leben, so ist Leben selbst die Bedeutung.“ (Tischinger 2017, 9) Doch zu dieser Erkenntnis ist es ein weiter Weg - oftmals haben wir den Eindruck, als wäre er auch bloß eine Fiktion - „Aber jeder Mensch kann und soll Mensch sein, also in seinem Leben dem, was er sein könnte, möglichst nahekommen. Und da Menschen immer wieder davor zurückschrecken, sie selbst zu sein, gehört Mut dazu, ein Selbst, ein Mensch zu sein.“ (Zaborowski 2016, 15)
Sich zu seinem Leben eine tragfähige Fiktion zu konstruieren, diese Konstruktion auch mit anderen Menschen auszutauschen, ist das, was oftmals mit Psychotherapie in Verbindung gebracht wird (vgl. Coetzee/Kurtz 2015, 252) - „Leben ist Geschichte - Geschichten sind Leben.“ (Tischinger 2017, 44) „Bei der Achtsamkeit dreht sich ja alles darum, dass wir uns ehrlich dem stellen, was in uns vorgeht, und wenn es sich um schwierige Dinge wie Kränkung oder Traurigkeit handelt, sind wir dazu nicht ohne Weiteres bereit.“ (Gunatillake 2016, 217)
Die Krisen des Lebens sind individuelle Kristallisationspunkte für Überlegungen zum eigenen Leben und sehr oft begegnet einem dabei das Phänomen, das der französische Schriftsteller Florian Zeller in den Satz gefügt hat „Life ist full of interruptions, but …“ (Zeller 2016, 36) Die Kunst des Lebens liegt vielleicht gerade in diesem Erleben und  Aufspüren solcher Unterbrechungen, und wahrscheinlich vielmehr noch im Innehalten darin. Die Orientierung in solchen Situationen lässt sich oft an bestimmten Fragen festmachen - Fragen nach den individuellen Werthaltungen, nach den sinnvollen Tätigkeiten im eigenen Leben und der Frage, wie es wohl weitergehen kann. Dabei ist es wichtig zu sehen, dass die Erlebnisse und Erfahrungen, die wir machen, bereits mit unserer Geschichte imprägniert sind - „Die Ereignisse laden sich mit einer Bedeutung auf, die aus unserer Geschichte stammt.“ (Cyrulnik 2006, 168)
Das Thema Selbstliebe lässt sich nicht von unserer Geschichte isolieren - und schon die bloße Beschäftigung damit kann ein Hinweis darauf sein, was uns wichtig ist und was uns verletzlich macht. „Was wir gewahren, ist in irgendeiner Weise signifikant; wir wissen bloß nicht genau, wie und wofür.“ (Ciompi 1997, 44)

Zum Autor

Rezension Harald G. Kratochvila - Michael Tischinger (2017) Selbstliebe
Michael Tischinger 
Michael Tischinger ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, sowie Facharzt für Psychosomatische Medizin. Er ist Diplom-Theologe und hat mehrere psychotherapeutische Ausbildungen. Seine Ausbildungen und seine Interessen konvergieren zu der Beschäftigung mit den menschlichen Möglichkeiten, Sinn im Leiden erkennen zu können, um sich schließlich davon zu befreien. Sein Buch über die Selbstliebe schöpft aus seinem Wissen und seiner Erfahrung - er ist Chefarzt der Adula Klinik Oberstdorf.
Der Autor stellt sein Buch vor: Buchvorstellung Selbstliebe





„ … denn spurlos gibt es nicht, deine Spuren hattest du noch bevor ich dich erkannte, in mir eingegraben. Dich.Werde ich.Nicht mehr los.“ (Melle 2007, 190)

Michael Tischinger fasst Selbstliebe als etwas auf, dass uns in „Beziehung zur eigenen Mitte“ bringt (Tischinger 2017, 23) - diese Beziehung ist verknüpft mit „Achtung, Wertschätzung, Wohlwollen und Fürsorge für sich selbst“ (Tischinger 2017, 44). Was den Selbstliebenden vom Narzissten und Egoisten unterscheidet ist, dass es nicht bei der bloßen Selbstzuwendung bleibt, sondern es auch zu einer Hinwendung zu anderen kommt. Diese Hinwendung nimmt ihren Ausgang in der Beschäftigung mit mir selbst: „Der Weg der Selbstliebe beginnt … damit, dass ich mich für mich selbst interessiere.“ (Tischinger 2017, 76)
Dementsprechend beginnt Michael Tischinger sein Buch mit einem Kapitel über die Möglichkeiten der Selbsterkenntnis - Erkenntnis der eigenen Fähigkeiten zu Liebe und Selbstliebe. Den größten Teil des Buches machen widmet er den Facetten der Selbstliebe, die er anhand von Geschichten aus seiner Praxis schildert. Dadurch findet man sich als Leser sehr gut im Thema zurecht - „Leben ist Geschichte - Geschichten sind Leben“ (Tischinger 2017, 49)
Den Abschluss bildet ein Kapitel über die Möglichkeiten, dieses Wissen und diesen Zugang auch in sein eigenes Leben zu integrieren - und es läuft darauf hinaus, dass es möglich ist seine eigene Lebensgeschichte schöpferisch zu gestalten. 

Fazit

Michael Tischinger lässt sein Buch mit einem Zitat des tibetischen Meditationsmeisters Milarepa beginnen: „Wenn man alles, was einem begegnet, als Möglichkeit zu innerem Wachstum ansieht, gewinnt man innere Stärke.“ (Tischinger 2017, 7) Die gedankliche Rahmung der eigenen Erlebnisse hat einen großen Einfluss darauf, was wir aus unseren Erfahrungen lernen können. Gerade an psychischen Grenzerfahrungen lernen wir sehr viel darüber, was uns wichtig ist und uns ausmacht - „An der Grenze kommt der Mensch sich am nächsten.“ (Marti 2017, 73).
Michael Tischingers Ansatz, in kurzen Geschichten das Leben selbst sprechen und erzählen zu lassen, bietet sehr viele Möglichkeiten für Konvergenz. Die sehr unterschiedlichen Erfahrungen, die zur Sprache kommen, sind vertraute Erzählungen, in die ich mich als Leser rasch einfinden konnte - das ganze Buch über ist ein vertrauter Ton beibehalten worden, ein Ton, der weder belehrt, noch korrigiert, aber sehr wohl anleitet und mehr Möglichkeiten schafft. Die Schriftstellerin Birgit Vanderbecke hat es einmal so ausgedrückt: „… und immer wenn es ums Leben geht, ist man besonders empfindlich.“ (Vanderbeke 1997, 10). Diese Empfindlichkeit ist bei Michael Tischinger in guten Händen Mit der Selbstliebe wird es vermutlich wie mit der Freiheit sein - „Freiheit ist häufig eine Fiktion, eine theoretische Option, die in der Praxis nicht leicht wahrzunehmen ist.“ (Van der Bellen 2015, 12) Aus der hilfreichen Fiktion Selbstliebe, die es nicht einfach hat, Realität zu werden, erwächst durch Geschichten und geteilten Erfahrungen eine Kompetenz und auch ein Weg - und Michael Tischinger ist ein passender Begleiter dafür - ein sehr gelungenes Buch. 

Harald G. Kratochvila, Wien

Verwendete Literatur:

Ciompi, L. (2016 [1997]). Die emotionalen Grundlagen des Denkens - Entwurf einer fraktalen Affektlogik. Göttingen (GER), Vandenhoeck & Ruprecht

Coetzee, J. M. und A. Kurtz (2016 [2015]). Eine gute Geschichte - Ein Gespräch über Wahrheit, Erfindung und Psychotherapie. Frankfurt/Main (GER), S. Fischer Verlag

Cyrulnik, B. (2007 [2006]). Mit Leib und Seele - Wir wir Krisen bewältigen. Hamburg (GER), Hoffmann und Campe

Gunatillake, R. (2016). Buddhify Your Life - Ruhig und gelassen bleiben im chaotischen Alltag. München (GER), O. W. Barth Verlag

Marti, L. (2017). Der innere Kompass - Was uns ausmacht und was wirklich zählt. Freiburg/Breisgau (GER), Verlag Herder

Melle, T. (2016 [2007]). Raumforderung - Erzählungen. Frankfurt/Main (GER), Suhrkamp Verlag

Vanderbeke, B. (1999 [1997]). Alberta empfängt einen Liebhaber. Frankfurt/Main (GER), Fischer Taschenbuch Verlag

Van der Bellen, A. (2015). Die Kunst der Freiheit - In Zeiten zunehmender Unfreiheit. Wien (AUT), Christian Brandstätter Verlag

Zaborowski, H. (2016). Menschlich sein - Philosophische Essays. Freiburg/München (GER), Verlag Karl Alber


Zeller, F. (2016 [2011]). The Truth. London (UK), Faber & Faber

Sonntag, 29. Januar 2017

Rezension: Lorenz Marti - Der innere Kompass

Rezension: Lorenz Marti – Der innere Kompass
Sich im Leben üben - Orientierung im Menschlichen!
Lorenz Marti (2017). Der innere Kompass. Was uns wirklich ausmacht und was wirklich zählt. Freiburg/Breisgau (GER), Verlag Herder
Das Buch wurde freundlicherweise vom Verlag zur Verfügung gestellt – www.herder.de
Rezensent: Mag. Harald G. Kratochvila (Wien)
Stichworte: Leben, Lebensbewältigung, Spiritualität, Lebenskompetenz, Philosophie, Rezension

Gedanken an den Stränden und Klippen des Lebens

Harald G. Kratochvila Rezension: Lorenz Marti - Der Innere Kompass
Lorenz Marti - Der innere Kompass

Die Orientierung auf dem Meer wird seit der griechischen Antike als Sinnbild für die Orientierung des Menschen im Unbekannten bemüht. Sich auf den großen Weiten der Ozeane zurechtzufinden wurde als besonderes Geschick verstanden, zu dem sich auch das Glück gesellen musste, um seinen Weg zu meistern. 
„Aber jeder Mensch kann und soll Mensch sein, also in seinem Leben dem, was er sein könnte, möglichst nahekommen. Und da Menschen immer wieder davor zurückschrecken, sie selbst zu sein, gehört Mut dazu, ein Selbst, ein Mensch zu sein.“ (Zaborowski 2016, 15)
Das Leben zu meistern wird seither ebenso als Fügung von Geschick und Glück gesehen. Lorenz Marti greift in seinem neuen Buch dieses Sinnbild auf und begibt sich auf die Suche nach dem, was den Menschen ausmacht und wirklich zählt. Dabei folgt er einem hohen Anspruch: „In diesem Buch verfolge ich die Spur des Menschen, wie sie Evolutionswissenschaften, Kulturgeschichte und Hirnforschung aufzeigen … Ich versuche zu übersetzen und … zu vereinfachen.“ (Marti 2017, 13)
Die Krisen des Lebens sind individuelle Kristallisationspunkte für Überlegungen zum eigenen Leben und sehr oft begegnet einem dabei das Phänomen, das der französische Schriftsteller Florian Zeller in den Satz gefügt hat „Life ist full of interruptions, but …“ (Zeller 2016, 36) Die Kunst des Lebens liegt vielleicht gerade in diesem Erleben und  Aufspüren solcher Unterbrechungen, und wahrscheinlich vielmehr noch im Innehalten darin. Die Orientierung in solchen Situationen lässt sich oft an bestimmten Fragen festmachen - Fragen nach den individuellen Werthaltungen, nach den sinnvollen Tätigkeiten im eigenen Leben und der Frage, wie es wohl weitergehen kann. 
Mit Lorenz Marti kann man sich in dem Buch gemeinsam auf den Weg zu den Klippen und Stränden des Lebens machen, zu den Grenzen, an denen sich die Übergänge von Gewissheiten am leichtesten - und wahrscheinlich auch am gefährlichsten - beobachten lassen. „Ohne Sinn kann ein Mensch nicht leben.“ (Marti 2016, 18) 
Dabei sollte man auf die Banalitäten des Lebens nicht vergessen: „Lassen Sie uns banal miteinander werden … Wenn einer irgendetwas tut, nehmen wir an, dass er das tut, weil er das tun will.“ (Jan Philipp Reemtsma, zitiert nach Altmeyer 2016, 146)
In der Philosophie und den Schriften zur Lebensklugheit stehen Überlegungen zum gelingenden Leben sehr oft unter dem Aspekt des Memento mori, also dem Bedenken der eigenen Sterblichkeit und der Vergänglichkeit. In der Renaissance verstand man darunter sehr oft, „… dass das Lernen das Sterbende wiederbelebt, während die Künste zurück ins Leben bringen, was in den Schatten gefallen ist.“ (Burke 2012, 238)
Das Thema Lernen ist auch für Lorenz Marti eine wesentliche Facette seiner Arbeit an seinem Buch. Und unweigerlich kommt man damit auch mit der Frage in Kontakt, was es über einen selbst zu erzählen gibt und inwiefern, dieses Erzählte tatsächlich einen selbst abbildet: „Die Geschichten, die die anderen über einen erzählen, und die Geschichten, die man über sich selbst erzählt: welche kommen der Wahrheit näher? Ist es so klar, dass es die eigenen sind? … Ist die Seele ein Ort von Tasachen? Oder sind die vermeintlichen Tatsachen nur die trügerischen Schatten unserer Geschichten?“ (Mercier 2008, 232-233) Lorenz Marti begibt sich mit dem Versuch, aktuelle Erkenntnisse aus der Wissenschaft in ein vereinfachter Form darzustellen und unter das Thema Orientierung zu stellen in schwierige Gewässer - und verliert sich dabei leider …

Zum Autor

Lorenz Marti hat Geschichte und Politikwissenschaften studiert und darin auch seinen Abschluss gemacht. Lange Jahre war er Redaktor im Bereich Religion beim Schweizer Radiosender DRS. Mittlerweile hat er vier Bücher publiziert. Seit 2002 gibt es von ihm eine monatliche Zeitungskolumne unter dem Titel "Spiritualität im Alltag", seit 2004 Lesungen und Vorträge in der Schweiz und in Deutschland. Eine Rezension zu seinem Buch „Das Leben ist schön“ gibt es an dieser Stelle: https://lebenskompetenz.blogspot.co.at/2015/08/rezension-lorenz-marti-ubrigens-das.html
Mehr Informationen zum Autor finden sich hier: www.lorenzmarti.ch

Karl Jaspers - „Der Mensch ist grundsätzlich mehr, als er von sich wissen kann.“

In seinem letzten Buch über die Schönheit des Lebens, setzte Lorenz Marti ein Zitat des italienischen Romanciers Cesare Pavese, der in einem Satz darauf hinweist, dass Leben sehr viel mit Anfangen-Können zu tun hat: „Es ist schön zu leben, weil leben anfangen heißt, immer, in jedem Augenblick.“ (Marti 2015, 15). Dieses Anfangen-Können zielt ab auf die Verwirklichung der Möglichkeiten, die einem geboten werden – nein, besser: die man sich durch seine Aufmerksamkeit und sein Engagement erst schafft. 
Lorenz Marti nähert sich in seinem Buch also den Wissenschaften vom Menschen, doch leider mit einigen Schwierigkeiten.
# Wissenschaftlichkeit - Zitate und Quellenverweise: Gerade in dem dynamischen Wissenschaftsbereich ist es unabdingbar, die Quellen zu kennen, aus denen Wissen zusammengetragen und zusammengefügt wird. Lorenz Marti hat sich in diesem Buch dazu entschlossen, Zitate und Literaturverweise kaum anzugeben - in den Quellenhinweisen am Ende des Buches finden sich vor allem Verweise auf Bildmaterial. Für den eigenen Anspruch, Erkenntnisse aus verschiedenen Disziplinen wie sie Evolutionswissenschaften, Kulturgeschichte und Hirnforschung liefern und dafür auch Übersetzungsarbeit zu leisten, ist das jedoch zu wenig. Noch dazu, wenn bei der Erklärung und Darstellung wissenschaftlicher Konzepte Verständnismängel offensichtlich werden. Renée Schroeder hat vor kurzem in ihrem aktuellen Buch gezeigt, wie sich gelungene Wissenschaftspopularisierung lesen und wie sich dem Menschen auf die Spur kommen lässt - im Detail bestimmt diskussionswürdig, aber zumindest auf der Basis wissenschaftlicher Nachvollziehbarkeit. 

# Duktus des Buches - Eklektizismus, Aneinanderreihung von Zitaten und Gedanken zu Zitaten: Lorenz Marti wählt in seinem Buch den Weg der geführten Gedankengänge. Manche Seiten bestehen aus einer Abfolge von Zitaten - direkten und indirekten, die aber in vielen Fällen nicht über die Art von Kalendersprüchen hinauskommen. Was dabei zu kurz gerät sind analytische Zugänge zu zentralen Themen und Begriffen des Buches. Die Metapher des Meeres beispielsweise bleibt völlig ohne Beachtung - seltsam, wenn man berücksichtigt, dass Lorenz Marti vom inneren Kompass und dem Wesen des Menschen spricht. Das Meer und die Orientierung darauf sind für Menschen seit Jahrtausenden wichtige Bezugspunkte für das Nachdenken über sich und das, was einen ausmacht. Die Mythen der griechischen Antike sind nur der Beginn für eine immer wieder gemachte Erfahrung, dass die Wechselhaftigkeit, wie sie sich in der Weite des Meeres und Phänomenen wie Ebbe und Flut manifestieren, auch als Sinnbild für die menschliche Existenz herangezogen werden kann. Und es gibt bereits durchaus Bücher, die sich diesem Zugang verschrieben haben - beispielsweise True North. 

Fazit

„An der Grenze kommt der Mensch sich am nächsten.“ (Marti 2017, 73) - auch Lorenz Marti ist mit diesem Buch an seine Grenze gestossen. Die Vermittlung von aktuellen Forschungsergebnissen und die Popularisierung wissenschaftlicher Theorien ist ihm in diesem Buch leider nicht gelungen. Das Buch hat eher Notizheftcharakter und passt damit zu der vom Autor eingangs erwähnten Zugangsweise zu neuen Themen: „Wenn ich schreibe, dann zuerst einmal für mich. Schreiben ist meine Art, Erfahrungen zu verarbeiten und Erkenntnisse zu vertiefen. Ich lerne, indem ich schreibe … Doch ich schreibe nicht nur für mich. Ich schreibe vor allem auch für andere.“ (Marti 2017, 11) In diesem Fall wäre es vermutlich besser gewesen, den privaten Notizheftcharakter beizubehalten …
Was bleibt: ein nicht eingelöster Anspruch an sich und das Buch selbst, die Übersetzungs- und Vereinfachungsarbeit ist nicht gelungen. Schade, das Thema des Buches ist wichtig  - andere Bücher halten brauchbarere Ausführungen bereit.
Harald G. Kratochvila, Wien

Verwendete Literatur:

Altmeyer, M. (2016). Auf der Suche nach Resonanz. Wie sich das Seelenleben in der digitalen Moderne verändert. Göttingen (GER), Vandenhoeck & Ruprecht

Burke, P. (2012 [1998]). Die europäische Renaissance - Zentren und Peripherien. München (GER), Verlag C. H. Beck 

George, W. W. und P. Sims (2007). True North - Discover Your Authentic Leadership. San Francisco, CA (USA), John Wiley & Sons

Marti, L. (2015). Übrigens, das Leben ist schön - Entdeckungen auf der Rückseite des Selbstverständlichen. Freiburg/Breisgau (GER), Verlag Herder 

Mercier, P. (2008 [2004]). Nachtzug nach Lissabon. München (GER), btb Verlag

Schmidbauer, W. (2016). Die Seele des Psychologen - Ein autobiografisches Fragment. Zürich (SUI), Orell Füssli Verlag 

Schroeder, R. und U. Nendzig (2016). Die Erfindung des Menschen - Wie wir die Evolution überlisten. Salzburg (AUT) & Wien (AUT), Residenz Verlag

Zaborowski, H. (2016). Menschlich sein - Philosophische Essays. Freiburg/München (GER), Verlag Karl Alber

Zeller, F. (2016 [2011]). The Truth. London (UK), Faber & Faber 


Mittwoch, 19. Oktober 2016

Rezension: René van Neer/Stella Braam - Wie sich Alzheimer anfühlt

Wie die Krankheit sich anfühlt - Alzheimer auf der Spur

René van Neer/Stella Braam (2016). Ich habe Alzheimer - Wie die Krankheit sich anfühlt. Weinheim (GER), Beltz Verlag

Verlag: www.beltz.de 

Das Buch wurde freundlicherweise von NUGENIS zur Verfügung gestellt – www.nugenis.eu 

Rezensent: Mag. Harald G. Kratochvila (Wien)

Stichworte: Alzheimer, Demenz, Betroffenenliteratur, Leben, Lebensbewältigung, Lebenskompetenz, Krankheit, Rezension 

Dem Phänomen Demenz auf der Spur oder "Man muss auch das Allgemeinste persönlich darstellen." (Hokusai)


Rezension Kratochvila - van Neer/Braam (2016) Alzheimer
Die japanische Autorin Banana Yoshimoto hat in einem ihrer Bücher folgenden Gedanken formuliert, der sich sehr gut zum Thema Alzheimer-Demenz fügt: "Alle Menschen sterben früher oder später. Es ist also sehr wichtig. wie sie ihr Leben und ihren Tod erfahren." (Yoshimoto 2012,192)

Vor nunmehr fast 7 Jahren erschien in den Niederlanden ein Buch, das schon damals für einiges mediales Aufsehen gesorgt hat. Stella Braam, Journalistin, hat gemeinsam mit ihrem Vater, dem Psychologen René van Neer ein Buch über seine Demenzerkrankung verfasst. Nun ist es erstmals auf Deutsch erschienen und wird auch im deutschsprachigen Raum für einige Diskussionen sorgen.

Das Thema Alzheimer ist mittlerweile nicht nur am 21. September präsent - dem Weltayzheimer-Tag, sondern das ganze Jahr über. In Studien über Sorgen und Ängste der Bevölkerung steht das Thema Alzheimer noch vor Terror und Wirtschaftskollaps. Der vieldiskutierte Pflegenotstand wird gerade im Zusammenhang mit den steigenden Demenzzahlen heftig diskutiert. Mitte September 2016 wurde das Thema besonders breit diskutiert, beispielhaft: http://medizin-aspekte.de/globalisierung-hat-altenpflege-erreicht

Gerade hier kommt eine Publikation aus der Perspektive eines Demenzerkrankten gerade Recht. "Menschen mit Demenz werden immer noch nicht gut verstanden" (8) - das ist der Ausgangspunkt des Buches und der Leser/die Leserin wird von den beiden durch die letzten vier Jahre des Lebens von René van Neer geführt. 

Von den Schwierigkeiten, den Anfang zu erkennen

Bei Pompeius findet sich der Satz: "Wer das Haus eines Tyrannen betritt, wird zum Sklaven, selbst wenn er zuvor keiner war." Die Alzheimer-Erkrankung schafft sich ihre Untergebenen - durch die Persönlichkeitsveränderungen der Erkrankten und die Struktur der Erkrankung selbst. 

Auch in diesem Buch wird betont, dass die Zeichen von Demenz erst sehr spät realisiert werden. Die immer umfassendere Desintegration der Persönlichkeit hat einen schleichenden Beginn und äußert sich in Momenten des Gedächtnisverlustes, in Sprech- und Verstehensschwierigkeiten, darin, dass Dinge und Menschen nicht mehr richtig erkannt werden, im Verlust des Zeitgefühls, in Stimmungsschwankungen und in Charakterveränderungen (vgl. 20). "Der Prozess verläuft schleichend, so langsam, dass man ihn anfangs nicht wahrnimmt. Erst im Nachhinein erkennt man die Signale." (20)

Mit diesem schleichenden Beginn ist aber auch das Problem der Früherkennung der Alzheimer-Erkrankung benannt - noch immer gibt es keine gesicherte Früherkennung dieser  Krankheit und damit auch immer noch keine Sicherheit bezüglich der Diagnose. Persönlichkeitsveränderungen werden daher leicht als intentionale Phänomene wahrgenommen, als Böswilligkeit, Unzufriedenheit, Launenhaftigkeit. Alles Zuschreibenden, die ein harmonisches Zusammenleben erschweren.

Und mit der Diagnosestellung wird es oft nicht besser - immer wieder offenbaren sich geläufige Vorurteile gegenüber Demenzerkrankten: Sie würden nichts mehr begreifen, wären weniger Wert als andere, stellen sich als nicht kommunikativ heraus, wären per Definition unwillig, würden durch ihre Erkrankung jeden Glanzes in ihrem Leben beraubt und bar jeder Hoffnung. (vgl. 67).

Was stimmt ist, dass mit dem Fortschreiten der Alzheimer-Erkrankung auch eine Persönlichkeitsveränderung stattfindet: Depressionen, Apathie, Erregung, Psychosen, Halluzinationen und Ruhelosigkeit sind Verhaltensänderungen, die immer wieder bei Alzheimer-Erkrankten zu beobachten sind (vgl. 108). Vielleicht wäre es besser, diese Veränderungen als adaptive Störungen zu sehen, die durch den spürbaren Kontroll- und Orientierungsverlust bedingt sind. Die Erkrankung stellt die Welt der Betroffenen komplett auf den Kopf - die Verhaltensänderungen sind der Versuch Halt zu finden und mit diesem Wandel Schritt zu halten. 

Aber auch hier gilt das Diktum von Eric Hoffer: "Viel entscheidender, als das, was wir wissen oder nicht wissen, ist das, was wir nicht wissen wollen." (zitiert nach Gramellini 2014, 5)

Forderungen eines Demenzerkrankten - Grenzen des persönlichen Engagements

René van Neer hat einen Forderungskatalog aufgestellt: 

(1) Emanzipation von Menschen mit Alzheimer
(2) Es muss etwas gegen die "Demenz-Explosion" getan werden
(3) Wünsche der Demenzerkrankten müssen im Mittelpunkt der Pflege stehen
(4) Jedem Demenzerkrankten sollte in eigener Pfleger zur Seite gestellt werden
(5) Auch Demenzerkrankte haben ein Recht auf Privatheit
(6) Demenzerkrankte haben ein Recht auf Freiheit
(7) Demenzerkrankte haben ein Recht auf die Verfügung über ihr Leben und ihre Zeit, sie sind nicht willensunfähig
(8) Die medikamentöse Ruhigstellung von Demenzerkrankten sollte verboten werden
(9) Demenzerkrankte sollten jeden Tag ausgiebig schmausen dürfen
(10) Demenzerkrankte sollten ein Recht auf freiwillige Euthanasie haben

Dieser Katalog birgt eine Reihe von Widersprüchen und Inkonsequenzen, auf die ich an dieser Stelle nicht ausführlich eingehen möchte. Ich nehme ihn aber durchaus zum Anlass, um darauf aufmerksam zu machen, dass in der Betreuung und im Umgang mit Demenzerkrankten noch vieles besser gemacht werden kann - "Das Leben ist ein ewiges Problem." (Flaubert 2005, 378)

Das Buch ist insgesamt eher von einem "Ich klage an"-Duktus getragen - die Innenperspektive von René van Neer wird durch nicht viel mehr als zusammengetragene Sätze und Gesprächsteile deutlich. Wie es sich tatsächlich anfühlt, wenn die eigene Persönlichkeit erodiert, darüber bekommt man durch das Buch kaum eine Ahnung - seine Stärken liegen woanders: Wichtige Themen in der Pflege und Betreuung von Demenzerkrankten werden zur Sprache gebracht, strittige Aspekte finden sich in die Alzheimergeschichte des Protagonisten eingebettet: Euthanasie, Freiheitsbeschränkung, medikamentöse Ruhigstellung, Pflegesicherheit. 

Alles in allem ein sehr interessantes Buch, das leider nicht ganz halten kann, was der Titel verspricht. 

Harald G. Kratochvila, Wien


Verwendete Literatur:

Flaubert, G. (2005 [1830-1880]). Briefe. Zürich (SUI), Diogenes Verlag

Geiger, A. (2015 [2011]). Der alte König in seinem Exil. München (GER), dtv (das Hokusai-Zitat aus der Überschrift findet sich auf Seite 5)

Gramellini, M. (2014 [2012]). Träum was Schönes. München (GER), Piper Verlag 

Yoshimoto, B. (2012 [2008]). Ihre Nacht. Zürich (SUI), Diogenes Verlag

Montag, 31. August 2015

Rezension: Sabine Horn/Martina Seth – Resilienz im Job



Krisen als Chancen – Resilienz als Möglichkeit zur Veränderung


Sabine Horn/Martina Seth (2015). Resilienz im Job – Was wir brauchen, was uns guttut. Freiburg/Breisgau (GER), Verlag Herder

Das Buch wurde freundlicherweise vom Verlag zur Verfügung gestellt – www.herder.de

Rezensent: Mag. Harald G. Kratochvila (Wien)

Stichworte: Resilienz, Coaching, Beruf, Karriere, Leben, Lebensbewältigung, Lebenskompetenz, Rezension 

Was wir brauchen, um es uns im Beruf gutgehen zu lassen

„Was du dir ausdenkst, weil es möglich ist, ist damit auch Wirklichkeit.“ (Nooteboom 1994, 38) Und man fühlt sich vielleicht an eine Grafik von Francisco de Goya erinnert, die den Titel trägt: Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer (Originaltitel: El sueño de la razón produce monstruos). Aber das ist nur ein Teil des Bildes – auch die Vernunft gebiert Ungeheuer, wenn Sorgen, Ängste und Verzweiflung den Menschen plagen – bekannte Reaktionen auf Krisen.
Kratochvila Rezension - Sabine Horn/Martina Seth: Resilienz im Job 
Dem österreichischen Begründer der Logotherapie und Existenzanalyse, Viktor Frankl, wird der folgende Satz zugeschrieben: „Äußere Krisen bedeuten die große Chance, sich zu besinnen“. Krisen sind alltäglich und begegnen uns in allen Bereich des Lebens – Partnerschaften, die auseinanderbrechen, Krankheiten, die Menschen betreffen, die uns nahe stehen, finanzielle Schwierigkeiten, die durch eine drohende Beschäftigungslosigkeit noch verstärkt werden. Soziale Krisen, und solche, die weit über die lokale Gesellschaft hinaus reichen, sind hier noch gar nicht erwähnt. Krisen sind Ereignisse und Veränderungen, die den bis dahin gültigen Rahmen (Annahmen, Routinen, Sicherheiten) auseinanderreißen oder sogar sprengen. Orientierungslosigkeit ist daher die Folge – Was Viktor Frankl als Besinnung benannt hat, ist die Wiedererlangung der inneren Orientierung, die es braucht, um sich auch im Äußeren wieder zurechtfinden zu können. William James, der Gründer der amerikanischen akademischen Psychologie, sieht in der Besinnung auch die Möglichkeit, sich der eigenen Stärke zu erinnern: „Große Notfälle und Krisen zeigen uns, um wie viel größer unsere vitalen Ressourcen sind als wir selbst annahmen.“ 

Krisen sind Herausforderungen und lassen sich nicht vermeiden. Diese Besinnung verlangt dem Individuum aber einiges an Kraft und Energie ab: „Besitzt ein Mensch zu wenig Hoffnung oder Widerstandsfähigkeit, kann man noch so viel Energie von außen hineinstecken – es bleibt dennoch ein Vakuum der Verzweiflung und Kapitulation. Im Gegensatz dazu engagieren sich Menschen, die an sich glauben, wesentlich mehr, was wiederum mit erhöhter Wahrscheinlichkeit zu einem Erfolg führt.“ (Bandura zitiert nach Short/Weinspach 2010, 11) Bei Karlfried Graf Dürckheim finden sich andere Begrifflichkeiten, die innere Zerrissenheit und die Gefühllage des Menschen in Krisen zu beschreiben: „Gerade ein Mensch, der sich in der tiefsten Dunkelheit seiner Verlorenheit in der Welt fühlt, die ihn, solange er im Ich festsitzt, in Angst, Verzweiflung und Einsamkeit stürzt, ist besonders bereit für den Ruf aus dem Wesen und so auch für einen Anruf, der sein Ich-Gehäuse durchstößt und ihm sein Wesen bewusst macht.“ (Dürckheim 2012, 110) Was sich gleicht ist die Vorstellung, dass Krisen zu Veränderungen führen und das diese Veränderungen im Inneren des Menschen zu verorten sind – vielleicht in der Ausbildung neuer Verhaltensweisen (vgl. Covey 2004)

Die Art und Weise also, wie man Krisen bewältigt und vor allem worauf man sich im Zuge der Verarbeitung von solchen Ereignissen besinnt, macht das aus, was mittlerweile auch in populären Medien unter dem Begriff der Resilienz, also einer allgemeinen Widerstandskraft, verstanden wird. Resilienz ist eine Fähigkeit, also erlernbar und erlaubt es, gestärkt und kraftvoll aus Krisen hervorzugehen. Das ist Gegenstand des zu besprechenden Buches. 

Zu den Autorinnen – Sabine Horn und Martina Seth

Sabine Horn unterstützt seit vielen Jahren Menschen in Krisen und Veränderungen – als Coach, Organisationsberaterin und Resilienz-Trainerin.  Gemeinsam mit einem Team führt sie ein Beratungsunternehmen. Nähere Informationen finden sich auf ihrer Webseite: www.arbeit-im-gleichgewicht.de

Martina Seth ist durch ihre Tätigkeiten als Prozessbegleiterin, Dozentin und Resilienztrainerin mit dem Thema befasst. Auch sie unterstützt Menschen in den verschiedenen Kontexten dabei, besser mit Veränderungen und Krisen umzugehen. Auch hier finden sich nähere Informationen auf der Webseite: www.seth-resilienz-training.de 

Krisen und Chancen, Veränderung und Stabilität

Veränderungen begegnen uns auf sehr unterschiedlichen Ebenen des Wahrnehmens, Denkens und Verhaltens. Robert B. Dilts hat ein Pyramidenmodell der logischen Ebenen entwickelt, das auf einer hierarchischen Stufenabfolge von Veränderungsmöglichkeiten basiert. Auf der untersten Ebene finden sich die Umgebung und die Umwelt abgebildet. Darauf fußt das menschliche Verhalten. Dieses Verhalten wird geprägt von Kompetenzen und Fähigkeiten. Eine Ebene darüber liegen die Glaubenssätze und Werte. Eine weitere Ebene darüber ist die Identität verortet, die schließlich in der Spitze der Pyramide vom Sinn abgeschlossen wird. (das Modell findet sich als einfache Darstellung in Horn/Seth 2015, 106-107) Eine fundamentale Grundannahme dieses Modells lautet, dass „eine erfolgreiche Veränderungsarbeit … in der Regel auf einer höheren Ebene ansetzen [muss], und dass sich die Ebenen wechselseitig beeinflussen.“ (Horn/Seth 2015, 106)

Die Umgebung und die Umwelt (Ebene 6) sowie die eigenen Verhaltensweisen (Ebene 5) lassen sich also leichter ändern, als die Spitze der Pyramide (Sinn – Ebene 1, Identität – Ebene 2). Dieses Modell der Veränderungsmöglichkeiten bietet aber auch einen passenden Einstieg in die Frage, was Krisen überhaupt ausmacht, denn man kann mit diesem Modell auch die Ebene der Veränderung sichtbar machen. 

„Mit Kraft und Motivation jeden Tag aufs Neue den Arbeitsalltag zu bestehen, stellt für immer mehr Menschen eine große Herausforderung dar. Der Druck auf den einzelnen Mitarbeiter wächst ständig, und zudem verschwimmen die Grenzen zwischen Arbeits- und Privatleben. Rasante Veränderungen in der Arbeitswelt, überhöhte Anforderungen an die eigene Leistungsfähigkeit und die Angst, im Job zu versagen, führen bei vielen Menschen zu starken körperlichen und seelischen Belastungen, bis hin zum Burnout.“ (Horn/Seth 2015, 7)
Veränderungen werden zu Krisen, wenn die eingesetzten Ressourcen nicht mehr zur Bewältigung der Veränderung bereit stehen. Resilienz wird als Fähigkeit definiert, diese schwierigen Lebenssituationen und Veränderungen ohne anhaltende Beeinträchtigungen zu überstehen (Horn/Seth 2015, 14)

Das Buch ist in zwei Teile gegliedert, und besteht aus fünf Kapiteln. Die ersten vier Kapitel stellen das Konzept der Resilienz vor und erläutern die sieben Resilienzaspekte. Sie liefern auch den Hintergrund dafür, Veränderungen besser verstehen zu lernen, und dabei auch die eigene Resilienz leichter entdecken und einsetzen zu können. Abgeschlossen wir das Buch mit einem Trainingsteil, der die zuvor erwähnten sieben Resilienzaspekte spezifisch fördern hilft. Das Resilienzmodell von Monika Gruhl ist das zugrundegelegte Modell für die Darstellung der Resilienzfaktoren (vgl. die aktuelle Auflage Gruhl 2014 – Horn/Seth zitieren nach der Ausgabe von 2010)

Resileinz – das zentrale Konzept des Buches, ist eine psychische Fähigkeit und beruht auf drei Voraussetzungen: Selbstwahrnehmung, Reflexion und Integration. Kurz gesprochen – wahrzunehmen, was mit einem passiert, welche Reaktionen durch Ereignisse ausgelöst werden und durch Reflexion dahinter zu kommen, welche Wirkmechanismen und andere Persönlichkeitseigenschaften dahinter stehen, kann dabei helfen, diese Wahrnehmungen und Reflexionen zu integrieren. Damit kommen wir unseren Grundbedürfnissen entgegen: Orientierung und Kontrolle, Lustgewinn und Unlustvermeidung,, soziale Integration und Selbstwertsicherung und Selbstentwicklung. (Horn/Seth 2015, 26)

Damit lassen sich nun Stressmuster bzw. Denkmuster, die zu Stress führen leichter erkennen und ihnen entgegenwirken. Das Resilienzmodell beinhaltet sieben Aspekte – drei Grundhaltungen: Optimismus, Akzeptanz, Lösungsorientierung und vier Handlungsaspekte: Selbstregulation, Selbstverantwortung, Netzwerk- bzw. Beziehungsorientierung und Zukunftsgestaltung. 

Resilienz ist daher etwas, das sich vor allem im Handeln zeigt, es ist nicht nur eine passive Eigenschaft, die Menschen in sich tragen, oder etwas, das wie ein Regenschirm die Regentropfen abhält. 

Sabine Horn und Martina Seth beschreiben diese Aspekte sehr anschaulich und geben unzählige Beispiele aus dem Berufsalltag, um zu verdeutlichen, in welcher Weise Resilienz dabei helfen kann, den Berufsstress besser zu verarbeiten bzw. gar nicht erst aufkommen zu lassen.

Der Trainingsabschnitt fördert mit Übungen die Selbstreflexion und ist dazu gedacht, dass man sich als Leser mit jemandem anderen über die jeweiligen Resilienzfaktoren und zugrundeliegende Aspekte unterhält. 

Fazit

Den Autorinnen ist ein übersichtliches Buch gelungen, das durch seine klare Struktur ein brauchbares Hilfsmittel am Weg zu einer höheren Resilienz ist. Es ist praxisnah durch viele Beispiele und ein guter Einstieg in die immer breiter werdende Resilienzliteratur. Für Leser, die bereits das Buch Monika Guhl kennen, wird es vor allem durch seinen Berufsbezug interessant sein. Für Coaches und Psychotherapeuten ist ohnehin das Buch von Dan Short und Claudia Weinspach Pflichtlektüre. 

Durch den Trainingsteil kann man immer wieder bestimmte Aspekte trainieren und gezielt darauf achten, wo man sich noch verbessern möchte.
„Was du dir ausdenkst, weil es möglich ist, ist damit auch Wirklichkeit.“ (Nooteboom 1994, 38) – Resilienz ist möglich …

Harald G. Kratochvila, Wien

Verwendete Literatur:

Covey, S. R. (2004 [1989]). The 7 Habits of Highly Effective People - Powerful Lessons in Personal Change. Restoring the Character Ethic. New York, NY & London (UK), Free Press

Dürckheim, K. G. (2012 [1966]). Der Alltag als Übung - Vom Weg zur Verwandlung. Bern (SUI), Verlag Hans Huber

Gruhl, M. (2014 [2008]). Resilienz - Die Strategie der Stehauf-Menschen. Krisen meistern mit innerer Widerstandskraft. Freiburg/Breisgau (GER), Kreuz Verlag

Nooteboom, C. (1994 [1981]). Ein Lied von Schein und Sein. Frankfurt/Main (GER), Suhrkamp Verlag

Short, D. und C. Weinsprach (2010 [2007]). Hoffnung und Resilienz - Therapeutische Strategien von Milton H. Erickson. Heidelberg (GER), Carl-Auer Verlag

Sonntag, 30. August 2015

Rezension: Gerd Rudolf – Wie Menschen sind



Ich bin ein Mensch, nichts Menschliches ist mir fremd (Terenz – Der Selbstquäler)

 

Gerd Rudolf (2015). Wie Menschen sind. Eine Anthropologie aus psychotherapeutischer Sicht. Stuttagart (GER), Schattauer

Das Buch wurde freundlicherweise vom Verlag zur Verfügung gestellt – www.schattauer.de

Rezensent: Mag. Harald G. Kratochvila (Wien)

Stichworte: Psychotherapie, Anthropologie, Coaching, Leben, Lebensbewältigung, Lebenskompetenz, Rezension 

Mensch sein …

Rezension Harald G. Kratochvila - Gerd Rudolf: Wie Menschen sind… folgt man den Überlegungen des Literaturnobelpreisträgers Patrick Modiano, dann bedeutet Mensch zu sein,  „… [s]einem Leben einen Zusammenhang zu geben …“ (Modiano 2014, 98/99) Umgelegt auf die psychotherapeutische Arbeit würde das zur Folge haben, Menschen dabei zu helfen, diesen Zusammenhang aufzuspüren, zu schaffen, aber vor allem lebbar zu machen. Menschen begeben sich aus sehr unterschiedlichen Gründen in Psychotherapie (vgl. Kottler 2015). Und manche therapeutischen Schulen betonen die Suche nach dem Sinn auf ganz besondere Weise (vgl. Frankl 1998)

Seinem Leben einen Zusammenhang zu geben, hat viel mit der Frage zu tun, wie wir eigentlich sind, oder wer wir eigentlich sind. Zur Frage nach dem Wie gesellen sich dann rasch Überlegungen nach der Quelle des Wirkens: „Wer nun nicht in sich selber wirkt, weilt auch nicht in sich. Sein und Wirken sind nämlich gleichbedeutend. Weder ist das Sein ohne Wirken, noch übersteigt das Wirken das Sein, noch wirkt jemand, wo er nicht ist; vielmehr wo immer er ist, wirkt er.“ (Ficino 2014, 35) Und mit dem Wirken und der Wirkung kommt auch die menschliche Praxis in den Blickpunkt: „Jede Arbeit, jede Kunst und jeder Beruf bedarf, damit das Werk gelinge, der Übung. Das weiß jeder, und, um sich in der Welt zu bewähren, lernt er, übt sich und verarbeitet seine Erfahrungen. … Der Mensch aber wird, was er sein soll, nicht von selbst. Er wird es nur, wenn er sich selbst in die Hand nimmt, an sich arbeitet und sich zur Vollendung des Werks ohne Unterlaß übt. Das wichtigste Werk seines Lebens also ist er selbst, ER SELBST als der „rechte Mensch“.“ (Dürckheim 2012, 7)

Was für den Menschen im Allgemeinen gilt, gilt auch für den Psychotherapeuten im Besonderen. Auch Psychotherapie muss geübt werden – und zwar eingehend geübt werden. Es braucht dafür nicht bloß psychotherapeutisches Werkzeug, sondern auch menschliches Grundverständnis. In diesem Sinne lässt sich wohl das aktuelle Buch von Gerd Rudolf verstehen – „Ziel der Menschenbildbetrachtung ist kein Expertenwissen, sondern ein selbstreflexives Wissen, das zum Selbstverständnis ebenso wie zum Verstehen des anderen beiträgt. Psychotherapeuten kann dies zum Aufbau der „therapeutischen Haltung“ verhelfen, die für das Gelingen einer Behandlung mindestens so wichtig ist, wie die therapeutischen Techniken.“ (Rudolf 2015, VII)

Menschen leben ihr Leben mehr oder weniger bewusst in dem Sinne, dass sie bewusste Entscheidungen treffen, die ihren Lebensweg bestimmen. Natürlich kommen äußere Ereignisse hinzu und die Entscheidungen anderer Menschen, aber jeder von uns versucht ein selbstbestimmtes, gutes Leben zu führen: „Denn als menschliche Wesen, die ein Bewusstsein ihres eigenen Lebens haben, sind wir unvermeidlich mit der Frage nach dem richtigen oder guten oder sinnvollen Leben konfrontiert und müssten damit ein Interesse daran haben zu wissen, worin dieses besteht und wodurch es zu erreichen ist.“ (Wolf 2013, 12)

Eine Beschreibung des richtigen, guten, sinnvollen Lebens ist nur vor dem Hintergrund bestimmter Menschenbilder verständlich – Menschenbilder, die über die Zeit und den kulturellen Rahmenbedingungen Veränderungen erfahren haben. Wie Menschen sind, ist daher auch als eine Suche nach diesen Menschenbildern zu verstehen. 

Zum Autor Gerd Rudolf

Gerd Rudolf ist seit vielen Jahren mit psychiatrischen und psychotherapeutischen Themen befasst. Dieses Interesse spiegelt sich in seinem akademischen und medizinischen Leben wider – als Professor, Psychotherapeut, Psychiater, Vortragender. Details zu seinen Aktivitäten finden sich auf seiner Homepage: www.rudolf-psychotherapie.de 

Seine Buchpublikationen finden sich auch an dieser Stelle aufgelistet: www.rudolf-psychotherapie.de/publikationen/buecher 

Menschenbilder

Seine Darstellung der Menschenbilder beginnt Gerd Rudolf mit einem Zitat von Karl Jaspers, das darauf hinweist, dass diese Menschenbilder in uns wirken und damit auch in unseren Wahrnehmungen und Urteilen. „Wir tragen Bilder vom Menschen in uns und Wissen von Bildern, die in der Geschichte gegolten und geführt haben. Der Kampf der Menschenbilder geht in uns um uns selbst. Wir haben Abneigung gegen und Neigung zu Bildern, die uns in einem Menschen begegnen. An ihnen orientieren wir uns wie an Vorbildern und Gegenbildern.“ (Rudolf 2015, 1)

In insgesamt zwölf Kapiteln beschreibt Gerd Rudolf verschiedene Aspekte, die in Menschenbildern zusammengesetzt und interpretiert werden – dabei geht es um die Animalität des Menschen, seine Emotionen und Gedanken, seine Fähigkeit zur Selbstreflexion, seine Religiosität, sein Verständnis von Moral, Kultur und sein Leben in der Gesellschaft. Jedem dieser Aspekte ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Die letzten drei Kapitel des Buches integrieren diese Darstellungen in das Feld der Psychotherapie und geben auch einen Ausblick auf weitere Überlegungen im Bereich der Anthropologie. 

Gerd Rudolf wird im Rahmen seines Buches nicht müde zu betonen, dass Menschenbilder ein wesentlicher Bestandteil in der Wahrnehmung von Menschen sind. Sie „basieren auf unterschiedlichen Anschauungen der Welt und des Menschen.“ (Rudolf 2015, 6/7) – diese Bilder sind normativ, sprich, die geben auch Auskunft darüber, wie Menschen zu sein haben. (vgl. Rudolf 2015, 17/18). Fünf Menschenbilder werden explizit erwähnt: das traditionelle christliche Menschenbild, das Menschenbild der Aufklärung, das Menschenbild der Romantik, das Menschenbild der Moderne und das Menschenbild der Postmoderne. (Rudolf 2015, 168-170)

Die Grundthese des Buches  - Menschenbilder wirken in uns – wird von Gerd Rudolf auch auf die psychotherapeutische Arbeit umgelegt: „Therapeuten tragen … vielfältige, teils bewusste, teils nicht bewusste Menschenbilder in sich.“ (Rudolf 2015, 268) Und das hat Implikationen für das therapeutische Handeln. Es fängt an bei der Frage, was überhaupt behandlungswürdige Zustände ausmacht (=Diagnostik) und geht auch in Richtung, welche Ziele die Therapie zu verfolgen hat. Und weil es sich um teils bewusste, teils nicht bewusste Inhalte handelt, ist es auch eine Frage der Selbstreflexion und der inneren Haltung, wie mit diesem Wissen gearbeitet werden kann. 

Fazit

Ein durch und durch gutes Buch. Auf diese knappe Einschätzung lässt sich dieser Text reduzieren. Gerd Rudolf hat es in seinem Buch geschafft, die Bedingungen freizulegen, die der therapeutischen Haltung innewohnen – das Bild, das wir uns vom Menschen machen, bzw. die Bilder, die uns in der Arbeit mit Menschen begegnen, haben einen großen Stellenwert in der Bestimmung von Diagnosen und Therapien. Sich diese Bilder zu vergegenwärtigen, und dabei zu erkennen, welche Aspekte dabei eine Rolle spielen, ist ein wesentliches Anliegen des Buches, dem es auch gerecht wird. „Du weißt nicht, dass man selbst sein größter Richter ist …“ (Casanova 2014, 143) – das lässt sich auf Fragen der Haltung bestimmt anwenden. Das Buch ist all jenen empfohlen, die sich mit Menschen auseinandersetzen – als Therapeutinnen, Coaches, Sozialarbeiter, als Ärztinnen … es wirft auch ein helles Licht auf die Frage, was für ein Mensch man selbst sein mag.

„Und dies ist der Kern dieser Geschichte: Wenn Geben durch sich selbst belohnt wird, kann bisweilen auch Nehmen eine Gefälligkeit sein.“ (Winter 2015, 147) Geben und Nehmen – vielleicht sollte das Buch auch unter diesem Aspekt gelesen werden.
Harald G. Kratochvila, Wien

Verwendete Literatur:

Casanova, F. F. (2014 [2010]). Heute ist mein letzter Tag lebendig (hoffentlich). Wien (AUT), Luftschacht Verlag

Dürckheim, K. G. (2012 [1966]). Der Alltag als Übung - Vom Weg zur Verwandlung. Bern (SUI), Verlag Hans Huber

Ficino, M. (2014 [1469]). Über die Liebe oder Platons Gastmahl. Hamburg (GER), Felix Meiner Verlag

Frankl, V. E. (1998 [1995]). Logotherapie und Existenzanalyse - Texte aus sechs Jahrzehnten. Weinheim (GER), Psychologie Verlags Union     

Kottler, J. (2015). Stories, We've Heard, Stories, We've Told - Life Changing Narratives in Therapy and Everyday Life. New York, NY (USA), Oxford University Press

Modiano, P. (2014 [1993]). Ein so junger Hund. Berlin (GER), Aufbau Verlag

Winter, E. (2015 [2012]). Kluge Gefühle - Warum Angst, Wut und Liebe rationaler sind, als wir denken. Köln (GER), DuMont Buchverlag

Wolf, U. (2013 [1996]). Die Suche nach dem guten Leben - Einführung in Platons Frühdialoge. Frankfurt/Main (GER), Vittorio Klostermann