Ein schönes Leben führen heißt anfangen können - Augenblicklich!
Lorenz Marti (2015). Übrigens, das Leben ist schön. Freiburg/Breisgau (GER), Verlag HerderDas Buch wurde freundlicherweise vom Verlag zur Verfügung gestellt – www.herder.de
Rezensent: Mag. Harald G. Kratochvila (Wien)
Stichworte: Leben, Lebensbewältigung, Spiritualität, Lebenskompetenz, Rezension
Über die kleinen Beobachtungen zur Aufmerksamkeit
„Der Maler hatte bis gegen Abend weitergearbeitet. Nun
saß er, die Hände im Schoß und stumpf vor Ermüdung, eine Weile zusammengesunken
im Armstuhl, vollkommen leer und ausgepreßt, mit erschlafften Wangen und etwas
entzündeten Augenlidern, alt und fast leblos, wie ein Bauer oder Holzhauer nach
der schwersten körperlichen Arbeit.“ (Hesse
1980, 89) – Hermann Hesse hat in seinem Roman Roßhalde die Auflösung einer
Künstlerehe beschrieben – Momente tiefer Niedergeschlagenheit werden immer
wieder nachgezeichnet: „Da sah er sein eigenes Gesicht im Wasser gespiegelt. Es
sah aus, wie die Gesichter der anderen: alt und bleich und tief in
gleichgültiger Strenge erstarrt. Er sah es erschreckt und verwundert, und
plötzlich stieg die heimliche Furchtbarkeit und sinnlose Traurigkeit seines
Zustandes übermächtig in ihm auf. Er versuchte zu schreien, aber es gab keinen
Ton. Er wollte laut aufweinen, aber er konnte nur das Gesicht verziehen und
hilflos grinsen.“ (Hesse 1980, 109)
Jeder von weiß, wie sie sich anfühlen: das Ausgelaugtsein,
das Schwächeln, das Mürbegewordensein – die Tragiken des Lebens zeichnen sich
in unsere Gedanken und in unseren Körper ein. Die Spuren davon, werden mit
zunehmendem Lebensalter immer schwieriger zu verbergen. Und man könnte sich die
Frage stellen, welches Lachen einen mehr berührt: das Lachen eines Kindes, oder
das Lachen eines alten Menschen.
Die Geschichten des Lebens
Kunst und Leben – ein Spannungsfeld, das schon viele
Menschen inspiriert hat. Die eigenen Lebenserfahrungen darzustellen, aufzuzeichnen
und dabei sich und anderen Gelegenheit geben, tiefer mit bestimmten Erfahrungen
und Gefühlen in Kontakt zu treten, das macht Kunst aus – Leben miteinander zu
teilen – und dabei keine Facetten auszusparen – das ist für viele der Schlüssel
zum gelungenen Leben. Das gelungene Leben ist ein kommunikatives Leben, „… denn
sowohl in der Kunst als auch in der Psychotherapie geht es um nichts anderes
als das Wesen des Menschen, um die Art, wie er sein Leben zusammen mit anderen
lebt und wie er es erzählt.“ (Rotthaus
2014, 251) Dabei lassen sich auch Dimensionen benennen, die diese Erzählungen
strukturieren: Neugierde, Schönheit, das Ertragen von Unsicherheit, Kreativität
und die Erweiterung der Möglichkeiten (näheres dazu Rotthaus 2014, 251-256)
Die Facetten des Lebens
Und unweigerlich kommt man damit auch mit der Frage in
Kontakt, was es über einen selbst zu erzählen gibt und inwiefern, dieses
Erzählte tatsächlich einen selbst abbildet: „Die Geschichten, die die anderen
über einen erzählen, und die Geschichten, die man über sich selbst erzählt:
welche kommen der Wahrheit näher? Ist es so klar, dass es die eigenen sind? …
Ist die Seele ein Ort von Tasachen? Oder sind die vermeintlichen Tatsachen nur
die trügerischen Schatten unserer Geschichten?“ (Mercier 2008, 232-233) Auf den Spuren dieser trügerischen Schatten
wird die Schönheit des Lebens zu entdecken sein. Das ist meine These.
Zum Autor
Lorenz Marti hat Geschichte und Politikwissenschaften
studiert und darin auch seinen Abschluss gemacht. Lange Jahre war er Redaktor
im Bereich Religion beim Schweizer Radiosender DRS. Mittlerweile hat er vier
Bücher publiziert. Seit 2002 gibt es von ihm eine monatliche Zeitungskolumne
unter dem Titel "Spiritualität im Alltag", seit 2004 Lesungen und
Vorträge in der Schweiz und in Deutschland. Mehr Informationen zum Autor finden
sich hier: www.lorenzmarti.ch
Ein Beispiel für eine aktuelle Kolumne findet sich hier: www.reformiert.info/artikel/kolumnen/die-geschichte-von-stehrumsel-und-den-platzr%C3%A4ubern
Über die Schönheit des Lebens – Über die Schönheit des Anfangen-Könnens
An einer frühen Stelle des Buches setzt Lorenz Marti ein
Zitat des italienischen Romanciers Cesare Pavese, der in einem Satz darauf
hinweist, dass Leben sehr viel mit Anfangen-Können zu tun hat: „Es ist schön zu
leben, weil leben anfangen heißt, immer, in jedem Augenblick.“ (Marti 2015, 15). Dieses Anfangen-Können
zielt ab auf die Verwirklichung der Möglichkeiten, die einem geboten werden –
nein, besser: die man sich durch seine Aufmerksamkeit und sein Engagement erst
schafft. Hindernisse, die sich dabei einem in den Weg stellen, sind einerseits
Fragen der Perspektive: „Was selbstverständlich scheint, kann seltsam wirken, wenn
wir es von nahem betrachte.“ (Marti 2015, 46). Und damit auch etwas, das mit
der eigenen Individualität zu tun hat – Meister Eckhart schreibt dazu: „Du bist
die Quelle all Deiner Hindernisse.“ (Marti
2015, 33).
Lorenz Marti macht sich in seinem Buch „Übrigens, das
Leben ist schön – Entdeckungen auf der Rückseite des Selbstverständlichen“
Gedanken über kleinere und größere Begebenheiten – diese Betrachtungen hat er
selbst in den natürlichen Kreislauf der Jahreszeiten gestellt. Die Form, der er
sich dabei bedient, ist die Glosse, die Kolumne. Kurz und bündig, werden
einzelne Gedanken in diesen Texten dargelegt. Das Thema: das Leben, und wie wir
es führen.
Jack Keronac hat es auf den Punkt gebracht: „Vor uns lag
noch ein längerer Weg. Uns sollte es recht sein. Der Weg ist das Leben.“ (Marti 2015, 59) Dieser Weg ist
gepflastert mit Selbstverständlichkeiten – in anderen Zusammenhängen liest man
auch Begrifflichkeiten wie Gewohnheiten, Routinen, habitualisiertes Verhalten,
usw. Hinter diesen Selbstverständlichkeiten verbergen sich aber auch
wesentliche Werte, an denen wir uns orientieren. Sie in Frage zu stellen, ist
keine leichte Angelegenheit – manchmal braucht es dafür äußere Ereignisse –
Trennungen, Unfälle, Verluste. Gerade wenn Trauer, Sorge, Schmerzen unser Leben
bestimmen, scheinen sich Fragen nach der Schönheit des Lebens wie zynische Häme
anzufühlen – „Ist das Leben wirklich schön? Na ja, manchmal schon. Aber nicht
immer und nicht überall. Genaugenommen sind die Momente, wo wir es einfach als
schön empfinden, eher selten.“ (Marti
2015, 171)
Dennoch – Leben heißt anfangen und damit wird uns eine
Entscheidungsmöglichkeit gegeben, der wir uns wirklich bewusst sein sollten – „Ein
waches Leben ist ein schönes Leben.“ (Marti
2015, 172) Die Einfachheit, von der bereits gesprochen wurde, bezieht sich aber
nicht auf den Aufwand, der dahinter steckt – die Einfachheit bezieht sich
vielmehr auf die Möglichkeit, die sich im Loslassen verborgen hält. Mit vollen
Händen lässt sich nichts mehr tragen. Wenn es uns gelingt, den Quellen der
Hindernissen, die in uns selbst verborgen liegen, das Wasser abzuschöpfen, dann
gelingt uns auch ein schönes Leben. Ganz ohne Mystik? Nach Ansicht von Lorenz
Marti eher nicht – doch Mystik greift in diesem Zusammenhang auf Begriffe und
Vorstellungen zurück, die den meisten von uns sehr vertraut sind, zum Beispiel
Liebe: „Wo das Denken aufhört … da beginnt die Liebe.“ – wie es bei Mesiter
Eckhart formuliert wird (Marti 2015,
174)
Liebe versus Denken – das Annehmen und Gewährenlassen
versus das Analysieren und Klassifizieren. Ist das schöne Leben ein gedachtes
Leben? Vielleicht …
Fazit
Lorenz Marti nähert sich den Fragen nach dem guten und
schönen Leben durch kleine Beobachtungen und Bemerkungen, die im aufgefallen
sind, und denen er sich in kurzen Glossen näher widmet. Diese Kolumnenform ist
auch mit gewissen Einschränkungen verbunden, die sich in den einzelnen
Ausgestaltungen der Gedankengänge widerspiegeln. Manchmal hat man als den Leser
den Eindruck, als müsste noch ein klein wenig mehr gesagt werden, um den
Gedanken der Glosse stimmig abzubilden – manchmal gelingt es Lorenz Marti aber
ganz gut, seine Eindrücke in die stimmig vorzulegen. Durch die Kolumnenform ist
es auch immer wieder augenscheinlich, dass sich gewisse Widersprüche
einschleichen, die nicht ausdrücklich aufgelöst werden – vielleicht liegt es
aber auch daran, dass kleine Betrachtungen einfach nur kleine Betrachtungen
sind – ein größeres Bild soll nicht gezeichnet werden. Und vielleicht sind auch
aus diesem Grund, die Zitate im Buch nicht ausgewiesen – sie dienen dem Autor
bloß als Ausgangspunkt für seine Überlegungen.
Alles in allem liegt mit diesem Buch eine angenehme
Lektüre vor, die unaufdringlich, leise und anregend die schönen Seiten des
Lebens in den Mittelpunkt rückt. Die Schönheit des Lebens ist eine Frage der
Aufmerksamkeit und Bücher wie dieses helfen dabei, neue Perspektiven einnehmen
zu können und etwas zur Ruhe zu kommen.
Abschließend
noch der Hinweis: „A beautiful way to practice mindfulness, which is almost
guaranteed to improve your social life, is to apply mindfulness toward others
for the benefit of others.” (Tan 2013,
48) – an dieser Stelle kann auch von Liebe gesprochen werden, und ich bin mir
sicher, Lorenz Marti entdeckt an der Rückseite dieser Selbstverständlichkeit
Wege des Spirituellen.
Harald G. Kratochvila, Wien
Verwendete Literatur:
Hesse, H. (1980 [1956]). Roßhalde. Berlin (GER),
Suhrkamp Taschenbuch Verlag
Mercier, P. (2008 [2004]). Nachtzug nach Lissabon.
München (GER), btb Verlag
Rotthaus, W. (2014). Warum systemische Therapeutinnen
und Therapeuten sich mit Kunst befassen sollten. Systemische Streifzüge -
Herausforderungen für Therapie und Beratung. J. Zwack und E. Nicolai. Göttingen
(GER), Vandenhoeck & Ruprecht: 246-259
Tan, C.-M. (2013 [2012]). Search Inside Yourself - The
Secret Path to Unbreakable Concentration, Complete Relaxation and Total
Self-Control. London (UK), Thorsons
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